Manufaktur des Klangs. 2000 Jahre Orgelbau und Orgelspiel
Foto: Kess van der Veen |
Gladiatorenkämpfe und Hofzeremoniell
Für
den Friseursalon seines Vaters im antiken Alexandria erfand der Grieche
Ktesibios vor über 2000 Jahren einen auf- und
abfahrbaren Spiegel. Technischer Clou: die Druckpumpe. Diese geniale
Erfindung ist die Voraussetzung für den Bau eines Instruments namens
organon hydraulikon, das Töne hervorbringt. Wie dieses
hydraulische Pumpwerk funktionierte, zeigt in der Ausstellung der
Nachbau einer antiken Wasserorgel („Hydraulis“) aus dem 3. Jahrhundert.
Die Orgeln jener Zeit waren mit einer Höhe von bis zu zwei
Metern noch vergleichsweise klein und transportierbar. Historische
Quellen und archäologische Funde zu Orgeln aus dem Altertum belegen die
große Popularität des Instruments. Während im antiken Griechenland vor
allem musikalische Orgelwettbewerbe stattfanden,
diente die Orgel in der römischen Antike eher zur musikalischen
Umrahmung von Sportveranstaltungen – wie den berühmten
Gladiatorenkämpfen – und erklang in den Villen wohlhabender Römer*innen
bei gesellschaftlichen Empfängen und Gastmahlen. Nach dem Untergang
des römischen Reiches im 5. Jahrhundert blieb das Wissen über den
Orgelbau im Byzantinischen Kaiserreich erhalten. Dort begleiteten
Instrumente wie die Doppelorgel, deren Nachbau in der Ausstellung zu
sehen ist, öffentliche Veranstaltungen wie Pferderennen
und wurden beim Hofzeremoniell gespielt.
Einzug in die Kathedralen
Erst
im Mittelalter hielten Orgeln durch geistliche Gelehrte Einzug in
christliche Kathedralen, wo man sie zur musikalischen
Ausgestaltung des liturgischen Programms einsetzte. Bei den immer noch
relativ kleinen, beweglichen Orgeln dieser Zeit handelte es sich um
transportfähige Standinstrumente, sogenannte ‚Positive‘ oder noch
kleinere ‚Portative‘, die beim Spielen auf den Knien
gehalten oder mit einem Band über die Schulter gehängt wurden. Wie so
ein Portativ ausgesehen haben könnte, zeigt die Ausstellung anhand des
Nachbaus eines „Portativ Organetto“ nach der Konstruktionsvorlage des
Universalgelehrten Arnault von Zwolle (um 1400–1460).
Der niederländische Orgelbauer Winold van der Putten orientierte sich
bei der Rekonstruktion auch an Darstellungen auf Gemälden flämischer
Meister wie Jan Van Eyck (1390–1441) oder Hans Memling (1433–1494). Die
Pfeifen mittelalterlicher Orgeln hatten in der
Regel denselben Durchmesser. Mit welchen Gegenständen diese damals
mitunter vermessen wurden, macht eine weitere rekonstruierte Orgel mit
sogenannter Taubenei-Mensur in der Ausstellung deutlich.
Statussymbol Orgel
Großangelegte
Orgelbauprojekte dienten im Barock der Demonstration von Reichtum und
Macht, auch innerhalb der Kirche. Es
entstanden immer imposantere und prächtigere Instrumente. In Europa
bildeten sich jetzt regionale Baustile heraus. Neben den monumentalen
Kirchenorgeln verbreiteten sich auch die kleineren Orgeltypen weiter.
Sie wurden vom Adel und dem Bürgertum als repräsentative
Hausinstrumente geschätzt. Davon zeugen eine ausgestellte
Prozessionsorgel, die zu den wertvollsten erhaltenen Trage-Orgeln des
italienischen Barock gehört, und eine Kabinettorgel aus der Werkstatt
von Johannes Stephanus Strümphler (1736–1807) in Amsterdam.
Ein echter Blickfang aus der Zeit des Rokoko ist das mit vergoldeten
Schnitzereien versehene Orgelpositiv des böhmischen Instrumentenmachers
Johann Rusch (1728–1791). Seltene originale historische Quellen
dokumentieren die Entwicklung des Orgelbaus in dieser
Zeit. Zu sehen sind eines von weltweit zwei erhaltenen Exemplaren des
„Spiegel der Orgelmacher und Organisten“ von Arnolt Schlick (vor
1460–nach 1521) von 1511, die barocke Instrumentenkunde „Syntagma
musicum“ von Michael Praetorius (1571–1621), das umfassende
musiktheoretische Werk „Musurgia universalis“ des Universalgelehrten
Athanasius Kircher (1602–1680) sowie das mit aufwendigen Stichen
illustrierte orgelbauerische Standardwerk „L'Art du facteur d'orgues“
von Dom François Bedos de Celles (1709–1779) aus dem
18. Jahrhundert.
Arp Schnitger und der norddeutsche Orgelbau
Hamburg
entwickelte sich in dieser Zeit zu einer der bedeutendsten
Orgelmetropolen Europas. Die vermögende Kaufmannschaft
beauftragte die besten Orgelbauer und gönnte sich wahre Luxusorgeln.
Der Orgelbauer Arp Schnitger markierte mit seinen ausgereiften,
klangmächtigen Instrumenten den Höhepunkt der barocken norddeutschen
Orgelbautradition. Seine Werkstatt baute insgesamt 170
Orgeln, von denen heute noch 47 erhalten sind. Seine 1687 fertig
gestellte Orgel der Hamburger St. Nikolai-Kirche, die beim Stadtbrand
1842 zerstört wurde, war bei ihrer Fertigstellung mit 67 Registern und
über 4000 Pfeifen die größte Orgel der Welt und machte
Schnitger überregional bekannt. Heute ist die 1693 errichtete, mehrmals
restaurierte Orgel in der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi mit 43
Registern die größte klingende Barockorgel des norddeutschen Typs. Ein
früherer Spieltisch, dessen Registerzüge die geschnitzten
Porträts bekannter Orgelfreund*innen aus der Zeit zieren, erzählt einen
Teil ihrer bewegten Geschichte.
Die „deutsche Orgelbewegung“ um Hans Jenny Jahnn
Nachdem
sich bereits Albert Schweitzer (1875–1965), der ausgebildeter Organist
war, vor dem Ersten Weltkrieg für eine Neuorientierung
im Orgelbau eingesetzt hatte, wurde Hamburg in den 1920er Jahren zum
Zentrum einer später als „deutsche Orgelbewegung“ bezeichneten
Reformbestrebens. Kopf der Bewegung war der Hamburger Schriftsteller
Hans Henny Jahnn (1894–1959), der selbst auch mehrere Orgeln
entwarf und sich erfolgreich für den Erhalt der Schnitger-Orgel in der
Hamburger St. Jacobi-Kirche einsetzte. Diese Barock-Orgel mit ihrem
„ehrlichen“, hellen Klang war für Jahnn ein Gegenentwurf zum damals
vorherrschenden „symphonischen“ Orgeltypus, dessen
romantischen Klang er als zu überladen, dunkel und opulent empfand. Ein
eigens für die Ausstellung produzierter Film lässt die von Jahnn
entworfene Orgel aus der Winterhuder Heinrich-Hertz-Schule im MKG
erklingen.
Faszination Orgeldesign
Bis heute hat die Orgel nichts von ihrer Faszination eingebüßt, weltweit entwerfen Orgelbauer*innen, Architekt*innen und
Designer*innen immer wieder spektakuläre Instrumente. Eine Fotowand in der Ausstellung präsentiert
ausgewählte Orgelbauten aus Geschichte und Gegenwart, die
die enge Beziehung des Orgelbauhandwerks zu den Disziplinen
Design und Architektur veranschaulichen. Prominentestes Beispiel dafür
ist wohl die aufregende Gestaltung des Stararchitekten Frank Gehry
(*1929) für die 2004 fertiggestellte Orgel der Walt
Disney Concert Hall in Los Angeles/USA. Ob traditionell oder
futuristisch – die unterschiedlichen Konstruktionsweisen dienen auch der
Inspiration der Besucher*innen, die sich mithilfe einer VR-Brille
selbst als Orgelbauer*innen versuchen können. Die Tatsache,
dass Orgeln fast immer Unikate sind, die für eine ganz bestimmten Raum
als Teil einer Architektur konzipiert sind, setzt den
Orgelbauermeister*innen der Gegenwart (fast) keine Grenzen. Das beweisen
eindrucksvoll spektakuläre Orgelbauten der jüngeren Vergangenheit,
wie die mit rund 5000 Pfeifen ausgestatteten Orgel der 2016 eröffneten
Elbphilharmonie, die die Gäste in einer medialen Präsentation rund um
das faszinierende Instrument in Hamburgs berühmtesten Konzerthaus
erkunden können.
Arp Schnitger (1648-1719), Entwurfszeichnung einer Orgel für die Reformierte Kirche in Altona, um 1686, aquarellierte Federzeichnung, Staatsarchiv Hamburg, Foto: Staatsarchiv Hamburg |
Leihgeber*innen:
Catalina Vicens, Basel | Staatsbibliothek
zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Berlin | Johannes Klais Orgelbau
GmbH & Co. KG, Bonn | Marienbibliothek Halle, Halle an der Saale |
Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg | Elb-philharmonie
Hamburg | Hans Henny Jahnn Verein e. V., Hamburg | Hauptkirche
St. Jacobi Hamburg | Orgelstadt Hamburg e. V. | Römerkastell Saalburg,
Bad Homburg | Georg Ott, Kirchensittenbach | Musikinstrumentenmuseum der
Universität Leipzig | Römisch-Germanisches Zentralmuseum,
Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie, Mainz |
Evangelisch-Lutherische
Kirche in Norddeutschland | Aug. Laukhuff GmbH & Co. KG,
Weikersheim | Winold van der Putten, Winschoten
Die
Ausstellung ist eine Kooperation des MKG mit der Hochschule für Musik
und Theater Hamburg in Zusammenarbeit mit Orgelstadt
Hamburg e. V. und dem Musikfest Bremen. Unterstützt wird das Projekt
außerdem durch die enge Zusammenarbeit mit Rudolf von Beckerath
Orgelbau, Hamburg, Johannes Klais Orgelbau GmbH & Co. KG, Bonn, der
MultiMediaKontor Hamburg GmbH sowie der Evangelisch-Lutherischen
Kirche in Norddeutschland.
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